Druckschrift 
Politische Geschichte Deutschlands im neunzehnten Jahrhundert / von Georg Kaufmann
Entstehung
Seite
537
Einzelbild herunterladen
 
  

Wahlen von 1862.

537

nicht zu Werkzeugen dieser Agitation machen ließ, die so arg wurde,daß der Minister von Jagow selbst sie durch eineu neuen Erlaßzu dämpfen suchen mußte. Die Heißsporne der Reaktion hofften,es möchte sich irgendwo ein Widerstand bilden, den man benutzenkönne, um mit Gewalt vorzugehen und die Verfassung zu beseitigen.Auch Roon ist dem Gedanken an einen Staatsstreich nicht fernegewesen, aber er wußte, daß der König dazu nicht zu haben war,solange das Land ruhig blieb. Und das Land blieb ruhig, trotzaller Aufreizungen, aber es erfüllte sich immer tiefer mit der Über-zeugung, daß es sich längst nicht mehr nur um einzelne Fragenhandele, sondern um eiuen Kampf gegen die kirchliche und politischeReaktion, oder, wie es der Wahlaufruf der Fortschrittspartei aus-drückte, um den Kampf gegen die reaktionäre Feudalpartei, dieinunversöhnlichen! Widerspruch stehe mit den lebendigen Kräftenuuserer Zeit",die nie den Staat wolle, sondern nur ihre Geltungim Staate". Nicht viel anders sagte Heinrich v. Sybel, einer derhervorragendsten unter den von der Fortschrittspartei damals alsExliberale oder Schwächlinge viel verhöhnten Gemäßigten (Konstitu-tionellen), in einer Rede in Krefeld :Wir stehen an einem Punkte,an dem es sich auf lange hin entscheiden mnß, ob unsere Ver-fassung, um mit König Friedrich Wilhelm IV. zu reden, nicht bloßein Blatt Papier , sondern ein echtes Bündnis zwischen König undVolk sein soll."

Die Beteiligung bei den Wahlen war so stark wie nie zuvor,und die Regierung erlitt eine vollständige Niederlage. Keiner vonden Ministern wurde gewählt; der Minister v. d. Heydt erlagselbst in Elberfeld , wo er feit dem Bestehen der Verfassung beijeder Wahl gewählt worden war, obschon der König selbst durch deuPolizeipräsideuten persönlich Heydts Wahl empfahl uud dabei, ihngleichsam entschuldigend, mitteilte, daß Heydt gegen die Auflösnngdes Hauses uud die Entlassung der liberalen Minister gewesen sei.Die beiden Fraktionen des entschiedenen Liberalismus (das liukeCentrum und die Fortschrittspartei) zählten zusammen 235 Mit-glieder, also zwei Drittel der 352 Abgeordneten; die ehemaligeFraktion Vincke sank auf 23, die der Kouservativen auf 10 Stimmen.Damit änderte sich auch der ganze Ton der Verhandlungen. An