Druckschrift 
Handelspolitik : Vorträge gehalten in Hamburg im Winter 1900/01 im Auftrag der Hamburgischen Oberschulbehörde / von Karl Helfferich
Entstehung
Seite
194
Einzelbild herunterladen
 
  

194 -

besitzer, sondern in seinem eigensten politischen und wirtschaftlichenInteresse vermittelst seiner Handelspolitik das Gleichgewicht zwischender Landwirtschaft einerseits, der Industrie und dem Handel andrer-seits gewährleiste. Friedrich List, zu dessen Zeiten Deutschland nochein Agrarstaat war, hat die Landwirtschaft mit dem einen Arm,die Industrie mit dem andern Arm des Menschen verglichen, und erwollte, daß Deutschland in einer entwickelten Industrie einen zweitenArm erhalte. Aus dieses Gleichnis des Mannes, der die Agrarzölleals eine Thorheit bezeichnet hat', nehmen heute die Gegner des In-dustriestaates Bezug; sie behaupten, der erste und wichtigere Arm desStaates sei im Begriff zu verkrüppeln, und das müsse der Staat unterallen Umständen und um jeden Preis verhindern.

Die Notwendigkeit, die Parität zwischen Landwirtschaft und In-dustrie durch eine Einschränkung unsrer industriellen Ausfuhr undunsrer landwirtschaftlichen Einfuhr zu erhalten, wird aus politischenund aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu begründen versucht.

In politischer Beziehung wird der kräftige und königstreue Land-wirt und Landarbeiter dem schwächlichen und socialdemokratischen In-dustriearbeiter gegenübergestellt. Sowohl die Wehrkraft des Reichesals auch der Bestand der Monarchie und unsrer Gesellschaftsordnungsollen in gleicher Weise auf der Landwirtschaft beruhen; sie sollen umso mehr gefährdet sein, je mehr die Landwirtschaft innerhalb desStaates an Bedeutung gegenüber der Industrie verliert.

Es läßt sich gewiß nicht bestreiten, daß der Beruf des Land-arbeiters für die körperliche Entwicklung gesunder ist, als die meistenindustriellen Berufe, und daß die Bevölkerung der großen Jndustrie-centren fortgesetzt der Ergänzung und Auffrischung durch Zuzug vomLande bedarf, soviel auch in sanitärer Beziehung während der letztenJahrzehnte sowohl in den industriellen Betrieben als auch in denGroßstädten geschehen ist. Aber was ist damit für die Wehrkraft desReichs entschieden? Wenn auch der Prozentsatz der Militärtauglichenunter der industriellen Bevölkerung ein geringerer ist als derjenigeder landwirtschaftlichen Bevölkerung, fo steht der Wirkung dieserThatsache auf die Wehrkraft gegenüber der Umstand, daß die industrielleBevölkerung eine sehr viel dichtere ist, als die landwirtschaftliche. Jemehr die deutsche Industrie sich entwickelt hat, je mehr dadurch der

' Vergl. oben S. 7S.