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Handelspolitik : Vorträge gehalten in Hamburg im Winter 1900/01 im Auftrag der Hamburgischen Oberschulbehörde / von Karl Helfferich
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Mangel an Arbeitsgelegenheit gerade zu jenem Druck auf die großenMassen, zu jener Verelendung der arbeitenden Bevölkerung hätteführen müssen, welche uns von agrarischer Seite als Folge des Industrie-staates in Aussicht gestellt werden. Außerdem kommt auch hier derUmstand in Betracht, daß die deutsche Landwirtschaft den so erheblichgesteigerten Nahrungsbedarf nur zu beträchtlich höheren Kosten hätteproduzieren können, die ihre Deckung in höheren Preisen hätten findenmüssen. Mangel an Arbeitsgelegenheit, niedrigere Arbeitslöhne,höhere Lebensmittelpreise das alles hätte die Lage der deutscheuBevölkerung in einer Weise verschlechtert, die auf die Bevölkcrungs-zunahme einen stark hemmenden Einfluß hätte ausüben müssen. Nichtnur, daß die Auswanderung, die gerade in den letzten Jahren desAufschwungs unsrer industriellen und kommerziellen Thätigkeit aufein Minimum gesunken ist, uns einen großen Teil unsrer Bevölkerungentzogen hätte und erfahrungsgemäß find es ja die thatkräftigstenund arbeitsfähigsten Elemente, die am leichtesten geneigt sind, den Druckder engen Verhältnisse der Heimat von sich zu schütteln; auch dienatürliche Bevölkerungszunahmc steht, wie die Statistik aller Länderzeigt, durchaus unter dem Einfluß der Gunst oder Ungunst der wirt-schaftlichen Lage. Reichliche Arbeitsgelegenheit und billige Lebensmittel-preise haben auf die Ziffer der Eheschließungen und Geburten stetseinen befördernden Einfluß ausgeübt, und sie haben andererseitsdie Sterblichkeit, namentlich die Kindersterblichkeit, beträchtlich ein-geschränkt. Die starke Bevölkerungszuuahme der letzten Jahrzehntehaben wir mithin ebenso wie die allgemeine Verbesserung der Lebens-haltung vor allem demIndustriestaat" zu verdanken, der reichlichenund lohnenden Arbeitsgelegenheit in Industrie und Handel und derdurch die Zufuhr von außerhalb ermöglichten Verbilligung der Lebens-mittel.

Es liegt in der Natur der Dinge, daß sich diese für die Gesamt-heit unsrer Volkswirtschaft überaus günstige Entwicklung nur voll-ziehen konnte unter einem Rückgang der landwirtschaftlichen Rente;denn die Grundrente beruht, wie ich Ihnen dargelegt habe, auf derzunehmenden Schwierigkeit und Verteuerung der Produktion vonNahrungsmitteln, und alles, was geeignet ist, die Sprödigkcit der Naturzu überwinden und die Nahrungsbeschafsung zu verbilligen, muß des-halb auf die Rente der Besitzer von Grund und Boden einen Druckausüben. Das Wohl der Gesamtheit steht jedoch über den Interessen