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Handelspolitik : Vorträge gehalten in Hamburg im Winter 1900/01 im Auftrag der Hamburgischen Oberschulbehörde / von Karl Helfferich
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greiflich, daß sie bei ihrer Theorie, die auf den ersten Blick so ein-leuchtend und abgerundet erscheint, verharrten. Aber auch heute noch,wo die flagrant widersprechenden Thatsachen seit langer Zeit klar zuTage liegen und für jeden, der sich die Mühe giebt, sie hören zu wollen,eine verständige Sprache reden, auch heute noch giebt es Fanatikerder Handelsbilanz, die immer wieder darüber jammern, daß unserVaterland durch die Zunahme der Einfuhr verarmen müsse, und dienach Einfuhrerschwerungen durch Zölle und womöglich durch Verboterufen, um unsre Handelsbilanz wieder günstig zu gestalten. Wirfinden diese Handelsbilanz-Fanatiker gleichfalls auf der agrarischenSeite, und das ist ja ganz natürlich, da unsre Einsuhr an Rohstoffenund Halbfabrikaten den weitaus größten Teil, etwa 80°/«, der Ge-samteinfuhr ausmacht. Aber wenn man sich einmal auf den Bodenstellen will, daß es für die wirtschaftliche Entwicklung eines Landesauf die Handelsbilanz ankomme, dann sind die alten Merkantilistensehr viel konsequenter und scharfsinniger als unsre modernen Agrarier,die die Einfuhr von Nahrungsmitteln und Rohstoffen beschränkenmöchten. Die alten Merkantilisten haben sehr Wohl erkannt, daßbillige Rohstoffe und Nahrungsmittel die industrielle Konkurrenz-fähigkeit auf dem Weltmarkt steigern, und daß mithin gerade durchden billigen Bezug dieser Artikel vom Ausland der Gesamtwert desExports beträchtlich mehr erhöht wird, als der Steigerung der Einfuhrentspricht; daß andererseits die Verhinderung und Beschränkung derRohstoff- und Nahrungsmitteleinfuhr die industrielle Produktion ver-teuert und so den industriellen Export noch stärker beeinträchtigenmüßte, als auf der andern Seite die Einfuhr von Rohstoffen undNahrungsmitteln vermindert würde. Die Wahrheit, daß eine Ver-besserung der Handelsbilanz durch eine Beschränkung der Rohstoff- undNahrungsmitteleinfuhr nicht zu erzielen ist, haben mithin die altenMerkantilisten vor den modernen Agrariern voraus, und die letzterenhaben von den Merkantilisten nur den offenkundigen Irrtum über-nommen, daß die wirtschaftliche Blüte eines Landes von dem Standseiner Handelsbilanz abhängig sei.

Im 17. und 18. Jahrhundert hat die merkantilistische Auffassungin der praktischen Handelspolitik der meisten europäischen Staatenimmer mehr die Oberhand gewonnen. Vor allem hat Colbert, dergroße Minister Ludwigs XIV. , die Grundsätze des Merkantilshstemsin Frankreich fast bis zur äußersten Konsequenz durchgeführt, und er