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Schon in äußerlicher Beziehung war dieser Vertrag ein Triumphfür die deutsche Politik. Denn zum ersten Mal war es gelungen, Ruß-land von seinem starren Prinzip der autonomen Zollgesetzgebung ab-zubringen und es zu einer Ermäßigung und Bindung wesentlicherPositionen seines Tarifs zu bewegen. Noch größer war die wirt-schaftliche Bedeutung des Vertrags in Anbetracht der Stellung, dieRußland im deutschen Außenhandel zukommt. Die Ermäßigung derGetreidezölle auch Rußland gegenüber konnte demgegenüber bei allenobjektiv Denkenden nicht ins Gewicht fallen, zumal da die hohenGetreidezölle, die Rußland gegenüber während des Zollkrieges in An-wendung waren, auf das Verhältnis des deutschen Getreidepreisesznm Weltmarktpreis keinen erkennbaren Einfluß ausgeübt hatten;von Bedeutung für die Preisbildung des Getreides in Deutschland war vielmehr auch vor dem russischen Handesvertrag lediglich der denmeisten Getreideländern gegenüber geltende Konventionaltarif von3,50 Mk.
Trotzdem erreichte jetzt der agrarische Ansturm gegen die Handels-politik Caprivis ihren Höhepunkt. Der Bund der Landwirte orga-nisierte eine maßlose Hetze gegen die Regierung. Der Vertrag wurdein den agrarischen Blättern als eine unerhörte Schmach für Deutsch-land und als das Grab des deutschen Wohlstandes bezeichnet. GrafMirbach behauptete im Reichstag, das ganze System der Handels-verträge bestehe einzig und allein in der konsequenten Schädigung dereinheimischen Landwirtschaft. Konservative Abgeordnete reichten demKaiser, der persönlich auf das lebhafteste für den russischen Handels-vertrag eintrat, ihren Abschied als Offiziere der Reserve und der Land-wehr ein. Führer des Bundes der Landwirte drohten mit ihremÜbergang zur Socialdemokratie. Die Parteien, welche sich selbstwohlgefällig als Stützen von Thron und Altar bezeichnen, befandensich also in Hellem Aufruhr. Caprivi, der Mann ohne Ar und Halm,war die bestgehaßte Person in Deutschland .
Aber alles nützte nichts. Der Kaiser und die Reichsregierungblieben fest; und in der Rcichstagskommission wurde der Vertrag am8. März 1894 mit 16 gegen 12 Stimmen genehmigt. Am 16. Märzwurde er im Plenum des Reichstags angenommen, und am 20. Märztrat er bereits in Kraft.
Damit waren die Grundlagen vollendet, auf denen seither einwesentlicher Teil des deutschen Außenhandels beruht. Für ein volles
Hclfferich, Handelspolitik. 1ö