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Handelspolitik : Vorträge gehalten in Hamburg im Winter 1900/01 im Auftrag der Hamburgischen Oberschulbehörde / von Karl Helfferich
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der Handelsverträge scheitern, dann wird aller Wahrscheinlichkeit nachvon neuem eine Ära der gegenseitigen Zollsteigerung und Absperrungbeginnen. So wird gerade Deutschland einen ganz besonderen Anteilan der Verantwortlichkeit sür die künftige Gestaltung der internationalenhandelspolitischen Beziehungen tragen müssen. Wir stehen abermalsvor einem großen Augenblick, in dem wir unser Schicksal in denHänden haben.

Wie wird dieser Augenblick benutzt werden?

Es ist zwar in der Tagespolemik viel von doktrinären Manchester -leuteu und Freihändlern die Rede. Aber wenn man sich umsieht inder Presse und in den Versammlungen, in denen die aktuelle handels-politische Frage behandelt wird, dann könnte man finden, daß dasVolk der Denker und Dichter fast etwas zu praktisch geworden ist;denn obenan in der Diskussion stehen nicht die prinzipiellen Streit-fragen zwischen Schutzzoll und Freihandel, und auch das allgemeineProblem der Gesamtentwicklung unsrer Volkswirtschaft erfährt nureine mehr beiläufige Behandlung, während die Sonderinteressen unddie Sonderbestrebungen der einzelnen Erwerbszweigc den Kern allerErörterungen bilden. Wir sind realistisch genug geworden, um zuwissen, daß der Gang der Wirtschaftspolitik weniger von allgemeinenund prinzipiellen Erwägungen, weniger von Vernunft und Gerechtigkeitbestimmt wird, als vielmehr von den politischeu Machtfaktoren desTages, von den Sonderinteressen der einzelnen Klassen und Berufe.Sehr erfreulich ist diese Erkenntnis nicht, aber für den Optimistenbleibt wenigstens die Hoffnung, daß auch in diesem Kampfe der Sonder-intcressen anf die Dauer diejenigen sich durchsetzen werden, in derenRichtung die gesunde Entwicklung der Gesamtheit liegt.

Wenn wir einen kurzen Blick werfen auf die Stellungnahmeder einzelnen Berufe und Klaffen zu der bevorstehenden handels-politischen Entscheidung, so erhalten wir folgendes Bild:

Die große Masse der Bevölkerung, die handarbeitende Klasse, nimmt,soweit sie politisch und wirtschaftlich organisiert ist (in der Social-demokratie, in socialistischen und christlichen Arbeitervereinen jederArt), geschlossen und entschieden Stclluug gegen jede weitere Erhöhungder Zölle, insbesondere gegen jede Steigerung der Zölle auf die not-wendigsten Lebensmittel. Die deutsche Arbeiterschaft ist während derPeriode der Handelsverträge gut gefahren. Reichliche Arbeitsgelegen-heit und steigende Löhne sind Hand in Hand gegangen mit im großen