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Schwerer als dieses haltlose Schreckgespenst des Vcrhungerns imKriegsfall sällt ins Gewicht die Frage, ob in der That auf die Dauerauf die Beschaffung von Lebensmitteln und Rohstoffen vom Auslandzu rechnen ist und ob wir im stände sein werden, unsren Fabrikaten-cxport, der zur Begleichung dieser Einfuhr dient, aufrecht zu erhalten.
Es wird behauptet, die Gebiete, aus denen wir jetzt in derHauptsache unsre Lebensmittel und Rohstoffe, die zur Ergänzung dereinheimischen Produktion dienen, beziehen, seien alle bestrebt, eineeigne Industrie großzuziehen. In absehbarer Zeit werde es soweitgekommen sein, daß diese Länder ihren Bedarf an Jndustrieartikclnselbst deckten, damit werde der Absatz unsrer Exportindustrie ein Endefinden; ein Ende mit Schrecken, denn alle die auf den Export be-gründeten Unternehmungen müßten zu Grunde gehen, das in ihnenangelegte Kapital müsse wertlos werden und die große Masse der indieser Industrie beschäftigten Arbeiter werde ihr Brot verlieren. IhrBrot im wörtlichsten Sinne des Wortes. Denn mit unsrem indu-striellen Absatz verlieren wir den größten Teil der Mittel, die zurBezahlung der Einfuhr aus dem Ausland dienen; und wer nichtbezahlen kann, dem wird nichts verkauft. Außerdem aber werde dasAusland bald nicht mehr imstande sein, uns überhaupt Brot zuliefern, denn es werde sein Getreide für seine eigne Bevölkerungbrauchen. Kurz, die industriestaatliche Entwicklung mache uns erstvom Ausland abhängig und gebe uns dann dem Untergang preis. —
Es ist nicht zu leugnen, daß auch diese Gedanken manches Ein-leuchtende enthalten. So vor allem die Wahrnehmung, daß die meistenAgrikultnrstaaten sich um die Förderung der Industrie im eignenLande bemühen. Sie thun dasselbe, was früher Deutschland gethanhat zu einer Zeit, wo es noch fast ausschließlich ein Agrarstaat war.Sie werden es vielleicht auch teilweise mit demselben Erfolg thun,soweit thuen nämlich für die Entwicklung der Industrie ähnlichgünstige Bedingungen zur Seite stehen. Aber wir brauchen nur unsreBlicke auf die industrielle Entwicklung Deutschlands und der übrigenLänder des europäischen Kontinents zu richten: wie lange hat es ge-dauert, bis hier die industrielle Emancipation von England sich voll-zogen hat! Und so wird es auch in den übrigen Staaten gehen; dafürsorgt schon das Schwergewicht der eignen Interessen auch gegenübereiner überspannten Schutzzollpolitik. Unsre Agrarier waren Frei-händler, solange sie beim Export ihre Rechnung fanden; und solange