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Handelsverträge über unser ganzes Tarifsystem fallen wird. Jemehr wir uns durch hohe Zölle vom Ausland absperren, desto geringerwird die Neigung und das Interesse Englands und seiner Koloniensein, uns Zugeständnisse zn machen, desto stärker müssen vielmehr imbritischen Weltreich die Bestrebungen werden, die auf einen Zollvereinmit gegenseitiger Begünstigung von Mutterland und Kolonien hinaus-laufen. Bei der großen Bedeutung sowohl Englands als auch seinerKolonien für den deutschen Handel liegt hier ein Problem vor, das mitder äußersten Vorsicht behandelt werden muß.
Noch prekärer sind die rechtlichen Grundlagen unsrer Handels-beziehungen mit den Vereinigten Staaten. Niemals haben die Ver-einigten Staaten mit dem Deutschen Zollverein oder dem DeutschenReich einen Handelsvertrag abgeschlossen. Die Basis der gegenseitigenVerkehrsbcziehungen ist vielmehr ein Vertrag zwischen den VereinigtenStaaten und dem Königreich Preußen vom 1. Mai 1828, der niemalssormell auf den Zollverein und das Reich erstreckt worden ist. DerVertrag ist in Anbetracht der gewaltigen Entwicklung der Weltwirt-schaft und des Welthandels, die seit seinem Abschluß eingetreten ist,lückenhaft und antiquiert, und über die Tragweite seines wichtigstenInhalts, der Mcistbegünstigungsklausel, bestehen seit JahrzehntenMeinungsverschiedenheiten zwischen den beteiligten Regierungen.Während der Artikel V des Vertrags bestimmt, daß die preußischeEinfuhr in den Vereinigten Staaten keine höheren und andern Zölleals die Einfuhr andrer Länder entrichten soll, lautet der Artikel IXfolgendermaßen: „Wenn von einer der kontrahierenden Parteien inder Folge irgend einer andern Nation eine besondere Vergünstigungin betreff der Schiffahrt und des Handels zugestanden wird, so solldiese Begünstigung sofort auch der andern Partei zu teil werden,und zwar, wenn sie der betr. Nation ohne Gegenleistung zugestandenist, gleichfalls ohne eine solche, wenn sie aber an die Bedingung einerGegenleistung seitens der betr. Nation geknüpft ist, gegen Bewilligungderselben Gegenleistung ^.
Die Handhabung dieser letzteren Bestimmung bietet in der Praxisgroße Schwierigkeiten. Die deutsche Regierung ist bisher von der Auf-fassung ausgegangen, daß die Einräumung aller Zugeständnisse, welchesie dritten Nationen auf Grund besonderer Verträge mache, eine hin-
' Vergl. George M. Fisk, Die Handelspolitik der Vereinigten Staaten von1890—1900, Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. 90, Leipzig 1900.